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20.10.11 - ALSFELD

Sebastian Ullrich ist das Bild eines Unternehmensberaters. Jung, dynamisch und umfassend ausgebildet mit Doppelabschlussstudium als Kaufmann und Informatiker hat er Anfang des Jahres seine Doktorarbeit eingereicht und ist spezialisiert auf verhaltenspsychologisches Marketing. Er berät seine Kunden in allen PR-Fragen, unter anderem bei der Gestaltung von Internetauftritten. Auf den ersten Blick bemerkt kaum jemand, dass der 35-Jährige ein Handicap hat: vor sechs Jahren ist Sebastian Ullrich ertaubt. Obwohl er nichts mehr hört – auch sich selbst nicht – hat er seine Sprachkompetenz nicht verloren. Er spricht mit einem ganz leichten Akzent. Trotzdem bedeutet die Hörschädigung für ihn eine empfindliche Einschränkung bei seiner Berufstätigkeit, denn telefonischer Kontakt ist für seine Kunden eine Selbstverständlichkeit.

Hier kommt der TESS-Dolmetschdienst, eine Telefonvermittlung für Hörbehinderte ins Spiel. Wenn ein Hörgeschädigter bei einer der sieben Mitarbeiter in Alsfeld anruft, ist er durch einen speziellen Livechat mit der Dolmetscherin oder dem Dolmetscher verbunden. Er teilt ihr schriftlich die Nummer seines gewünschten Gesprächspartners mit, den sie für ihn anruft. Dann vermittelt sie zwischen ihm und dem gut Hörenden, dem sie die schriftlichen Beiträge vorliest und dessen Antworten dem Ertaubten schreibt. Denn wie Ullrich geht es den meisten Ertaubten und Hörbehinderten – der Alltag ist ohne die Möglichkeit zu telefonieren, ungeahnt kompliziert. Schnell einen Termin absprechen, einen Zahnarztbesuch oder ein Date zu vereinbaren oder eine Nachfrage zu stellen, ist trotz Internet und Emailverkehr nicht so einfach möglich.

„Mit der immer größeren Hörschädigung und schließlich nach meiner Ertaubung im März 2006 habe ich mich vielen Herausforderungen stellen müssen“, erinnert Ullrich sich. „Man wird ins kalte Wasser geworfen und muss Kommunikationsprobleme sowie psychische Probleme auf einmal lösen. Es ist schwierig, sich daran zu gewöhnen, dass man beim Autofahren den Motor nicht hört, der früher unerträglich laute Feueralarm nicht mehr wahrgenommen wird und man nie wieder seine Lieblingsmusik hören wird.“ Um sich annähernd vorstellen zu können, welche Einschränkungen mit einer Ertaubung verbunden sind, haben die Mitarbeiterinnen des Tess-Relay-Dienstes anfangs mit das Gehör ausschaltenden Kopfhörern geübt. So konnten sie auch die Verunsicherung nachempfinden, wenn man zum Beispiel nicht weiß, worüber sich Menschen um einen herum unterhalten oder plötzlich lachen. „Blindsein trennt von den Dingen, nicht hören zu können, von den Menschen“, ist ein Erklärungsansatz.

Ullrichs früherer Kommilitone und heutiger Kollege Dr. Patrik Jungen, der mit Kollegen die Internet-Agentur Polaris Media in Offenbach betreibt, profitiert von dessen Fachkompetenz und telefoniert oft mehrmals täglich per Tess mit Ullrich. „Ich bin heilfroh, dass es dieses Angebot gibt“, sagt Dr. Jungen und nennt den Service „ein Stück Normalität“. So bestimmt der Hörbehinderte selbst, wann er mit wem telefonieren will und ist auch für die Kunden jederzeit erreichbar. Ja, anfänglich sei der Kontakt mit Dolmetscher für manche fremd und gewöhnungsbedürftig, aber schon beim zweiten Telefonat funktioniere es reibungslos.

Smalltalk und Einmischung sind tabu

Das bestätigt auch TESS-Mitarbeiterin Christa Bechstein, die seit fünf Jahren mit Headset und Tastatur täglich das Motto des Dienstes umsetzt: „Wir verstehen uns!“ Bis zu 70 Gesprächen – vom Bestellen einer DVD beim Verleih bis zum familiären Streitgespräch dolmetscht sie und versteht sich selbst dabei als Hilfsmittel oder Instrument. „Wir bleiben immer ganz sachlich und neutral, halten auch mit Stammkunden niemals Smalltalk, denn sonst hätte der bei problematischen Anrufen vermutlich Schwierigkeiten“, erklärt sie. Gefühle müssten bei der Vermittlung generell außen vor bleiben, sonst nähme man womöglich noch die Probleme der Kunden mit nach Hause oder stehe in der Gefahr, sich persönlich einzumischen – ein absolutes Tabu. Die Bandbreite und auch die Dauer der Telefonate unterscheide sich nicht von denen zwischen Hörenden: „Es gibt banale Terminabsprachen und es gibt zweistündige Fachsimpeleien zwischen Experten, bei denen der Dolmetscher nur Bahnhof versteht und bestimmte Begriffe quasi in Lautschrift schreibt, weil er sie nicht kennt.“ Einen hörgeschädigten Kunden haben die Tess-Mitarbeiter zum Beispiel bei seinem Hausbau und unzähligen Architekten- und Handwerkergesprächen bis zum Richtfest begleitet.

Mindestens 400 Anschläge pro Minute tippen zu können, ist Voraussetzung für diesen Profi-Job und natürlich absolute Diskretion und Verschwiegenheit über die vermittelten Gespräche. Dazu gibt es einige Sonderregeln, die es den Nicht-Hörenden erleichtern, den Kontext einer schriftlich wiedergegebenen Äußerung wahrzunehmen: „Wenn jemand bei seiner Antwort lacht oder hektisch oder ärgerlich wird, teilen wir das unseren Kunden auch mit, damit er die Möglichkeit hat, z.B. etwas ironisch Gemeintes als solches zu identifizieren“, erklärt Christa Bechstein. Auch eine Gesprächspause bzw. das Satzende des Sprechers wird bildlich durch zwei Sternchen symbolisiert. Die 53-Jährige dolmetscht die Gespräche nicht nur gut, sondern auch sichtbar gern. „Jemandem auf diese Weise zu helfen, sein Leben ein bisschen leichter zu organisieren, ist doch Grund zur Freude.“

Sebastian Ullrich empfiehlt Tess uneingeschränkt und stellt seine Erfahrungen mit diesem und anderen Hilfsmitteln auf seiner eigenen Internetseite http://www.ertaubt.de ein. Hier gibt es auch Tipps für Hörende, um Berührungsängste abzubauen und den Umgang mit Hörgeschädigten zu verbessern. Sein Urteil: „Alles, was uns hilft, barrierefrei und selbstbestimmt zu kommunizieren, kommt uns entgegen“, sagt er.´Weitere Informationen über Tess unter http://www.Tess-relay-dienste.de +++ Carla Ihle-Becker


Christa Bechstein dolmetscht professionell bei Tess.

"Wir verstehn uns..". heißt das Motto von Tess


Hier in Alsfeld sitzen die neuen Dienste Vogelsberg.

Sebastian Ullrich ist froh, dass er mit Hilfe von Tess telefonieren kann.


Die Fragen unseres Interviews las Ullrich vom Laptop ab.

Dr. Patrik Jungen kann und will auf die Spezialkenntnisse und -fähigkeiten von Sebastian Ullrich nicht verzichten.


Arbeitssituation bei Polaris Media. Die Mitarbeiterin tippt das, was Patrik Jungen sagt, für Sebastian Ullrich in den Laptop.

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