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- Fotos: Hendrik Urbin / Christian P. Stadtfeld

17.06.10 - RASDORF

Helmut Schmidt ist ein Phänomen. Diesen Eindruck werden wohl die allermeisten der rund zweitausend Besucher, die die Preisverleihung heute auf Point Alpha live miterlebten, teilen und mit nach Hause nehmen. Auf die Frage der Point-Alpha-Direktorin Uta Thofern nach den scheinbar unversiegbaren Kraftquellen des Altkanzlers entgegnete der Altbundesknazler lapidar: „Das weiß ich nicht, das haben mir der liebe Gott oder die Gene mitgegeben.“ Sprach´s und zündete sich eine Zigarette an.

Während die beiden Laudatoren, die thüringische Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und der Theologe und ehemalige DDR-Bürgerrechtler Richard Schröder die herausragenden Verdienste des Geehrten um Frieden und Freiheit würdigten, konnte man besorgte Blicke in Richtung des im Rollstuhl sitzenden 91-Jährigen beobachten, der den Reden über Kopfhörer folgte und zeitweise einen abwesenden Eindruck machte. Doch schon die ersten Sätze seiner Dankesrede machte jede Sorge um seine geistige Präsenz überflüssig. In gewohnter Frische und rhetorischer Brillanz dankte Schmidt. „Sie haben in Ihrem Lob etwas übertrieben – gleichwohl habe ich Ihnen gerne zugehört.“

Lesen Sie auch einen 2. Hauptbericht vom heutigen Vormittag - vor allem zu den Hintergründen und Fakten und den Point-Alpha-Preis unter http://www.osthessen-news.de/beitrag.php?id=1183364 .

Christine Lieberknecht hatte zuvor in ihrer Rede bekannt, sie selbst habe der Friedensbewegung nahe gestanden und den NATO-Doppelbeschluss durchaus kritisch gesehen, der sich jedoch im nachhinein als richtig erwiesen habe. Schmidt zeichne die persönliche Stärke aus, solche gesellschaftlichen Konflikte aushalten zu können und Stehvermögen zu beweisen – „auch bei Gegenwind und steifer Brise“.

Auch Richard Schröder bezog sich hauptsächlich auf diese Zeit von Schmidts Kanzlerschaft, die der Wiedervereinigung erst den Weg geebnet habe. Kein anderer Beschluss habe solche Massenproteste ausgelöst wie der heiß umstrittene Doppelbeschluss, erinnerte er und verwies gleich auf die heutige Demonstration der Linken an der Point Alpha-Gedenkstätte anlässlich der Preisverleihung: „Die einen sind für den Frieden, die anderen gegen den Krieg – das erzeugt natürlich Spannungen“, kommentierte er die Begründung der Protestierenden ironisch.

Die damalige Haltung der Doppelbeschluss-Gegner sei davon ausgegangen, eine einseitige westliche Vorleistung beim Abrüsten wirke ansteckend auf den Osten. Doch Helmut Schmidt habe immer betont, mit der Bergpredigt (Wenn du auf die eine Wange geschlagen wirst, halte noch die andere hin) könne man keine Politik machen, Güte werde als Schwäche gedeutet. Auch wenn man die Beendigung des Kalten Krieges und die Abrüstung nicht monokausal mit den Raketenstationierungen erklären könne, habe das Urteil bis heute Bestand: „Schmidt hat besser als jeder andere verstanden, wie die Sowjetunion tickte.“ So sei Helmut Schmidt nicht der einzige Altbundeskanzler, „aber mir der liebste!“, schloss Richard Schröder.

Er fühle sich durch den Preis geehrt, dankte Schmidt nach der Urkundenverlesung und Übergabe des symbolischen Grenzpfostens, vor allem mit Blick auf die herausragenden Personen, denen er ebenfalls schon verliehen wurde. In einem frei vorgetragenen geschichtlichen Abriss zeichnete der Altkanzler die Entwicklung in Europas Osten – angefangen von den Hoffnungen des dann zerschlagenen Prager Frühlings über die Solidarnosc in Polen und die Bürgerrechtsbewegungen in Ungarn und der DDR.

Angesichts der Aufrüstung in der Sowjetunion sei er sehr beunruhig gewesen, bekannte Schmidt. „Das prekäre militärische Gleichgewicht der Kräfte drohte instabil zu werden.“ Für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, um das militärische Gegengewicht zu schaffen, habe er Kritik erwartet und in Kauf genommen. Die heftige Gegenreaktion einer breiten Öffentlichkeit erklärte Schmidt nachträglich auch mit der westdeutschen Neigung, sich ängstigen zu lassen und verwies in diesem Zusammenhang auf das - in diesem Jahren - ebenfalls heraufbeschworene Waldsterben: „Ich habe viel Wald gesehen auf dem Weg von Fulda hierher“, konstatierte er.

Der „törichten, rein emotionalen Parole von damals „lieber rot als tot“ erteilte Schmidt eine klare Absage. Auch Teile seiner eigenen Partei seien dieser Ängstigung erlegen, bis der „berühmt-berüchtigte Doppelbeschluss seinen stupenden Erfolg gezeitigt habe. Kanzler Gerhard Schröder habe seinen diesbezüglichen Irrtum später eingestanden. Er selbst habe tatsächlich nicht geglaubt, die Vereinigung Deutschlands persönlich noch zu erleben. Ein besonderes Augenmerk legte Schmidt auf die jetzt 60 Jahre andauernde Kontinuität von europäischer Integration, Frieden und Freiheit. Die deutsche Zuverlässigkeit, Stetigkeit und Berechenbarkeit in dieser Frage sei einer der wesentlichen Faktoren des Friedens und habe die deutsche Vereinigung erst möglich gemacht.

Auch in seinem Interview mit Uta Thofern betonte Schmidt noch einmal die Wichtigkeit des neuen Eindrucks, den die Deutschen bei ihren europäischen Nachbar hinterließen, nämlich die Tatsache „dass man sich auf die Deutschen verlassen kann.“ Man müsse sich über die latenten Ängste der Nachbarstaaten klar sein: „Wir sind mit 80 Millionen ein dicker und fetter Nachbar, der mit Anmaßung und schlechtem Benehmen großes Unheil anrichten kann“, warnte der Altkanzler vor Überheblichkeit. Rücksichtnahme auf die Nachbarn müsse in jedem Fall Vorrang haben, denn der Zusammenhalt in Europa sei keine Selbstverständlichkeit. „Die Deutschen neigen nicht dazu, gute Nachbarn zu sein“, konstatierte der 91-Jährige und mahnte: Gute Nachbarschaft kostet kleine Opfer – und manchmal eben auch große.“

Über alle politischen Grenzen hinweg hat Altkanzler Helmut Schmidt seinen Zuhörern heute Respekt und Hochachtung abgenötigt: ein Mann, der des Point-Alpha-Preises würdig ist. (ci) +++



























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