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23.06.08 - REGION
Von dumm bis blöd: Fußball-Hymnen platzieren sich zur EM in den Top 100-Charts
Ganz Deutschland ist im EM-Fieber: gefühlsmäßig jedes dritte Auto ist mit mindestens einer schwarz-rot-goldenen Fahne „geschmückt“, auf „Public-Viewing-Plätzen“ drängen sich tausende von Fans und Bierbrauer freuen sich über reißenden Absatz. Der zunehmende Gerstensaft-Konsum erscheint auch als einzig logische Erklärung für den teilweise hohen Einstieg der einzelnen Musiktitel zur EM, die in den „Top 100 Singlecharts“ ihr saisonal bedingtes Unwesen treiben. Eine kleine youtube-Exkursion macht deutlich, dass sich die "Fußball-Hymnen" diverser Interpreten musikalisch / textlich / videogestalterisch überwiegend auf einer Skala von "strunzdumm" bis "saublöd" bewegen - und lässt dennoch den Schluss zu, dass die Singer/Songwriter schlauer als ihre Schöpfungen sind: alle wollen sich was vom (Fußball-)Kuchen abschneiden - und manche sind wohl auch ganz erfolgreich.
Angefangen bei Shaggy, der von den zwei unsägliches EM-Maskottchen „Trix und Flix“ im Video des offiziellen EM-Songs „Feel the Rush“ (Platz 1 der aktuellen Singlecharts) aus dem sonnigen Jamaika per Heißluftballon in die Alpen gelotst wird und dann per Traktor - vorbei an Frauen im Dirndl und urigen Holzhütten - ins Fußballstadion gefahren wird. Der ständig dudelnde Akkordeon-Beat nervt bereits nach kurzem Hören. Wenn der Song im Radio läuft, spürt man nicht mehr den „rush“ (Andrang), sondern mittlerweile eher einen „rash“ (Ausschlag) auf der Haut.
http://www.youtube.com/watch?v=FjspxBtxFXg
Für die Band Revolverheld geht in ihrem Song „Helden 2008“ (Platz 3) das „Fußballwunder weiter“. Abgedroschene Phrasen (irgendwie gut passend zu den "Haarmatten" der Videodarsteller à la Breitner und Netzer) wie „wir stehen hinter euch wie der 12. Mann“ und der Wunsch „Lasst uns einmal alle Helden sein“ erzeugen schlicht einen Brechreiz. Ihr singt „Wir gehen zusammen in die Geschichte ein“ – ich hoffe: „ihr werdet bald Geschichte sein“ – spätestens nach dem EM.
http://www.youtube.com/watch?v=9ceSwIwXZus
B-Promi Oliver Pocher hat weitere B, C & D-Promis um sich geschart und die Fußballhymne „Bringt ihn heim“ (Platz 8) kreiert. "Wir wollen den Pokal - alles andre wolln wir nicht" singt er mehr schlecht als recht und der Zuhörer will alles andere, aber das nicht. Zudem schlüpft Pocher im Video selbst durch Verkleidung in die Rollen verschiedener Fußballpersönlichkeiten (Beckenbauer, Kurani, Löw …) und versucht, diese zu parodieren. Das Ergebnis ist desaströs und nüchtern betrachtet wenig lustig. „Bringt ihn heim“ sollten sich Pochers Produzenten zu Herzen nehmen und ihm Hausarrest erteilen - dies würden bestimmt auch Harald Schmitt und viele seiner Zuschauer begrüßen.
http://www.youtube.com/watch?v=vRGAj58nyrs
Die - 2003 bei einer österreichischen Castingshow entdeckte - Ösi-Deutsch-Rockerin Christina Stürmer hat aufgrund der EM „Fieber“ ( Platz 13) bekommen und fordert den Hörer auf „komm fieber mit“. Der Titel ist der offizielle Song des Österreichischen Fußball-Bundes und Bestandteil der ZDF EM-Kampagne. Ob die 26-jährige deshalb so brav das UEFA-Motto in der Zeile "...wir erleben Emotionen..." untergebracht hat? Putzig ist die Verbindung von Fieber mit "..100.000 folgen dir auf Schritt und Tritt" - aber zur Zweitverwertung bietet sich das Lied so ja auch für eine Internationale Epidemie-Konferenz an. Fiebrig, gell'?
http://www.youtube.com/watch?v=PjOU76dkmjc
So gehts auch: gelallte Eurovisionsmelodie, Ballermann-Patriotismus und Eu-ro-pa-meis-ter im Stechschritt-Rhythmus auf "Guantanamera" skandiert. Also: "LalalalalalalalalalalalaOleOleOleSupaDeutschLandOleOleEuropameister“ - schon hat man die gesamten Lyrics von Mickie Krauses „Supa Deutschland“ (Platz 17) zusammen und jeder Dummbatz kann - egal mit wieviel Promille im Blut - noch mitgrölen. Danke Mickie, du bist Deutschland!
http://www.youtube.com/watch?v=KbLCdEO3qzU
Pochers Kollege „Elton“ war sich natürlich auch nicht zu schade, einen eigenen EM-Song zu machen. Für sein Werbeengagement bei Snickers hat er den - musikalisch nervigen - Song „Allemann“ (Platz 26) ersonnen. Die zweideutige Wortschöpfung „Allemann“ ist das einzig Intelligente an dem Titel. Dafür hat Elton einen Schokoriegel verdient.
http://www.youtube.com/watch?v=IT510SmGPK0
Mit einem zweiten „niveauvollen“ Stück ist Mickie Krause leider in den Top 100 vertreten. In dem Song „Orange trägt nur die Mullabfuhr“ (Platz 31) werden auf den Beat von „Go West“ die üblichen Hollandklischees („Ey, Ruud, fahr doch mal den Wohnwagen weg“) bedient - und da reimen sich auch Brüste auf Küste. Supa!
http://www.youtube.com/watch?v=-cpnnzhimjQ
Musikalisch einfach gemacht haben es sich auch der Schlagerfuzzi Stefan Peters und der mittlerweile scheinbar senile "Massenchor-Leiter" Gotthilf Fischer: „Ein Stern der deinen Namen trägt“ von Nik und DJ Ötzi wurde kurzerhand auf „Ein Stern der über Deutschland steht“ (Platz 34) umgetextet. Wer schon 1,5 Promille brauchte, um die DJ-Ötzi Version gut zu finden, wird hierbei mindestens 2 Promille brauchen, um wenigstens mitzuwippen.
http://www.youtube.com/watch?v=hteKfQs24ew
Ein wenig intelligenten Geschäftssinn muss man Oliver Pocher doch zugestehen: Spätestens jetzt bei der EM wird klar, dass er in seinem Song „Schwarz & Weiß“ (Platz 44) aus dem WM-Jahr 2006 bewusst Jahreszahlen weggelassen hat. So dass, wenn es schlecht läuft, und in 60 Jahren immer noch Fußballmeisterschaften ausgetragen werden, einen dieser Song eventuell bis zum Lebensende verfolgt. Außer geschäftstüchtig scheint der B-Promi auch sparsam zu sein: Parodieleistung und Haarmatten fanden schon 2006 grausige Verwendung.
http://www.youtube.com/watch?v=_wQHl04cAOU
Auch die Sportfreunde Stiller haben sich mit ihrem - bis in die Unendlichkeit weiterführbaren - WM-Song „'54, '74, '90, 20xx“ (Platz 47) zur EM-Zeit wieder in den Charts einfinden können.
http://www.youtube.com/watch?v=lCG7DRNM8zw
Für den offiziellen EM-Song der Schweizer spitzt der einzige noch lebende, international bekannte Schweizer Künstler DJ Bobo die Lippen. Im englischen Text (wäre Schwyzerdütsch nicht viel netter gewesen?) hat der Eidgenosse offenbar sein Lebensmotto ("shake your body...come on, dance with me") verewigt. „Ole Ole“ (Platz 58) heißt das Machwerk und wird vermutlich schneller aus den Charts ausscheiden als die Schweiz in der Vorrunde.
http://www.youtube.com/watch?v=PmlQ1m4GOis
Den „Adler auf der Brust“ (Platz 64) von Jogis Mannen heben die „Lollis“ hervor und singen - neben halbwegs Witzigem ("für Euch ertragen wir auch Netzers Haare") und Plattheiten ("für Euch grölen wir 24 Stunden") - das Versprechen, „ein Denkmal zu bauen, wenn ihr dieses Ding gewinnt“. Wenn das Denkmal dieselbe handwerkliche Qualität aufweist wie der EM-Song, dann sollte die Denkmalschutzbehörde einschreiten und Deutschland vor diesem Denkmal schützen.
http://www.youtube.com/watch?v=YeF-qzxdl0w
Ganz schlau wollte die Combo „Tobee“ sein und an den WM-Erfolg der Sportfreunde Stiller anschließen. Kurzerhand hat man einfach die Jahreszahlen der EM-Titelgewinne „72, 80, 96, 2008“ (Platz 71) als Songtitel gewählt. „72, 80, 96, 2008 - wir werden wieder Meister, wir hams schon mal geschafft, ... denn wir sind eine Macht“. Ole, Ole... - Mit der Zeile "wir wollns mit aller Kraft" meinen die plagiatorisch Begabten aber bestimmt nur eines: das Klingeln in der Kasse.
http://www.youtube.com/watch?v=xzj-9e4pk6M
Mit der Gitarre hat sich „DJ Schnippes“ für den Song „Finale“ (Platz 72), eine Coverversion des Italo-Welthits "Volare", ins Tonstudio gesetzt. Der Schöpfer des Originals, Domenico Modugno, bekam 1958 für "Volare" 2 Grammys und Platz 1 der US-Billboard-Single-Charts. Doch bei youtube wurde das recycelte Lied so wenig angeklickt, dass man sich fragen muss, wer überhaupt die Single-CD gekauft haben soll? Man will DJ Schnippes nicht unterstellen, dass er selbst eine Palette der Silberlinge aufgekauft hat, um seine Platzierung zu puschen.
http://www.youtube.com/watch?v=8vsKnjkDXjg
Auch der Star mit den tiefgründigen Texten und der verschwurbelten Aussprache, Herbert Grönemeyer, ist mit dem Titel "Zeit, dass sich was dreht" erneut in die Charts gekommen (Platz 73). Es enthält sowohl zeitlose Fußballweisheiten ("..es gibt kein 2. Mal") als auch Sachaufklärung ("Die Zahl ist gefallen, die Seiten vergeben"), in einer Zeile werden zugleich Seelenleben und Physis gefoulter Spieler beschrieben ("..du fühlst, du glaubst du fliegst"). Lobenswert: das Video bietet einen Crash-Kurs internationaler Balltreter-Historie und mehr tolle Szenen als die laufende EM. Das Lied, 2006 offizieller WM-Song, entspricht trotz anspruchsvollerer Tongestaltung und Multi-Kulti-Einlage letztlich aber doch dem Grundgesetz aller Fußball-Lieder: man muss nur eine Zeile mitsingen können.
http://de.youtube.com/watch?v=hd4oF4dZg9Q
Jürgen - der durch die erste Big Brother Staffel zweifelhafte Berühmtheit erlangte und es als einziger Container-Bewohner geschafft hat, nicht ganz in der medialen Versenkung zu verschwinden, und immerhin *hust* bei 9Live moderieren darf - hat zusammen „Ballermann“-Musiker Libero5 den Song „Deutschland ist der geilste Club der Welt“ (Platz 74) kreiert. Hängt man noch „Schalalala“ dran, hat man einen Großteil der Lyrics zusammen.
http://www.youtube.com/watch?v=MAcVQYpCLZ0
Die Punkrocker „Die Fraktion“ durchreisen in ihrem Lied „Schwarz Rot Gold“ (Platz 85) Europa und lassen bei den Staatsbesuchen kein Klischee aus: „Russland und Rumänien, ihr wärmt euch mit Wodka auf “ oder „unter eurem Halbmond, hält der Döner uns gesund, doch wir drehen den Spieß im Fußball um - sogar mit vollem Mund“. Völkerverständigung wird hier groß geschrieben.
http://www.youtube.com/watch?v=ple7J80sDq0
Bei der WM 2006 im Airplay "totgespielt", ist das Lied "Der Weg" des Mannheimer Sangesphilosophen Xavier Naidoo aus der sportlich-musikalischen Versenkung wieder erstanden (Platz 88). Der Titel war vor zwei Jahren "Kabinenlied" der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und - so raunte man - gehörte deshalb zu "Klinsis" Konzept mentaler Stärkung. Oder wars eher akustisch vorbereitete Abhärtung? Dafür spricht ja die Zeile "Manche treten dich..." - Auch für den Fan bietet es Trost. ("Nicht mit vielen wirst du dir einig sein..") Aber so richtig Spaß macht eher die Version von Otto Waalkes: "Dieser Keks wird kein weicher sein..."
http://de.youtube.com/watch?v=nIaoiNV-uMQ
Wenn es um Coverversionen erfolgreicher Songs geht, dann ist die Hermes House Band („Country Roads“, „Que Sera“ etc.) nicht weit. Wie könnte es 2008 anders sein: Für die Fußballfans wurde natürlich auch „Three Lions“ (Platz 89), besser bekannt als „Football's Coming Home“, gecovert.
http://www.youtube.com/watch?v=tKsts3Vmgc4
Auf die Kicker im Mutterland des Fußballs, auf die Engländer, wird von der „Gurkentruppe“ heftig eingetreten. „Schade! England bleibt zu Haus“ (Platz 94), „bedauern“ die Gurken und freuen sich: „..das Mutterland des Fußballs existiert nicht mehr.“
http://www.youtube.com/watch?v=mLFavlOQ79c
Auf dem letzten Platz landet bedauerlicherweise der „Musiker“ Tim Toupet, der mit seinem Song „Allee Allee“ (Platz 98) gar nicht das Thema Fußball behandelt, sondern sich um die Bildung unserer Jugend bemüht: „Allee, Allee. Eine Straße, viele Bäume, ja, das ist eine Allee“. In dieser dunklen Zeit, in der „König Fußball“ regiert, bekommt Tim Toupet als einziger Interpret in den Top 100 für seinen Titel das Prädikat „pädagogisch wertvoll“ verliehen.
http://www.youtube.com/watch?v=JH7AODmADvU
(Hans-Hermann Klein) +++