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- Fotos: Klaus Dehnhard

18.06.07 - Schlitz

Artenschutzprojekt langsam, aber sicher: Frisches Blut für Sumpfschildkröten

Unter prominenter Begleitung aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft wurden heute junge Europäische Sumpfschildkröten bei Schlitz-Fraurombach (Vogelsbergkreis) in die Fulda ausgesetzt - und damit in die Freiheit entlassen. Mit der Auswilderungsaktion - an der auch Hessens Umweltminister Wilhelm Dietzel teilnahm - wurde auch das älteste hessische Artenschutzprojekt gewürdigt. Bereits vor rund 150 Jahren setzte nämlich der Schlitzer Naturfreund und Reptilienliebhaber Graf von Görtz die ersten Europäischen Sumpfschildkröten in der Fulda aus. Bis heute hat ein kleiner Bestand der seltenen Panzerträger in Osthessen überlebt. Die Arbeitsgemeinschaft (AG) Sumpfschildkröte kümmert sich seit acht Jahren in Kooperation mit dem Frankfurter Zoo um Nachzucht und die Auswilderung der bedrohten Spezies.

Als man vor etwa 150 Jahren noch in ganz Deutschland damit beschäftigt war, alle größeren Wildtiere und Nahrungskonkurrenten wie Luchs, Bär, Wildkatze oder Fischotter auszurotten, war in Schlitz alles anders. Andernorts landeten die letzten mitteleuropäischen Sumpfschildkröten als Delikatesse in den Bäuchen der damals Mächtigen und Wohlhabenden oder wurden als Fischräuber verfolgt und getötet. In Schlitz aber erkannte der Reptilienliebhaber und Naturinteressierte Graf von Görtz die Zeichen der Zeit: vermutlich zwischen 1850 und 1860 - Schlitz gehörte damals zum Großherzogtum Hessen - begann der Naturliebhaber das wahrscheinlich älteste hessische Artenschutzprojekt und ließ Sumpfschildkröten an den Flüssen Fulda und Schlitz auswildern. Jetzt - rund 150 Jahre später - leben immer noch Sumpfschildkröten in der Fulda und ihren Nebenflüssen, sie haben selbst der Gewässerverschmutzung der 70er und 80er Jahre getrotzt.

Doch längst drohen den langlebigen Panzerträgern neue Gefahren, erklärte die Biologin Sibylle Winkel, die gemeinsam mit Dr. Matthias Kuprian vom hessischen Umweltministerium das Artenschutzprojekt Europäische Sumpfschildkröte koordiniert. Der zunehmende Straßenverkehr macht den Tieren bei den Überland-Wanderungen zu schaffen, exotische Schildkröten aus Übersee drängen in den Lebensraum der heimischen Panzerträger und so manches Tier landet aus falsch verstandener Tierliebe im heimischen Gartenteich oder im Terrarium und geht so der Wildpopulation verloren, bedauerte Sibylle Winkel.

Dem osthessischen Pionier des Natur- und Artenschutzes zu Ehren und um dessen erfolgreiche Arbeit mit modernen Methoden fortzusetzen, hat die AG Sumpfschildkröte zwei Handvoll junge Sumpfschildkröten heute unter dem Beifall von Naturschützern im Fauna-Flora-Habitat (FFH)- und Naturschutzgebiet “Breitecke bei Schlitz” in ihre neue Heimat entlassen.

Auch Hessens Umweltminister Wilhelm Dietzel ließ es sich nicht nehmen, eigenhändig einer jungen Sumpfschildkröte die neue Freiheit zu schenken. Dietzel lobte die gute und vorbildliche Zusammenarbeit von amtlichem und ehrenamtlichem Naturschutz sowie der Wissenschaft, die erst den Erfolg des hessischen Langzeit-Artenschutzprojektes garantiert. Besonders beeindruckend, so Dietzel, sei der Langzeitcharakter des Projektes. Bei einer so langlebigen Art wie der Sumpfschildkröte müssten auch die Schutzmaßnahmen auf Jahrzehnte angelegt sein.

Zahlreiche Vertreter der Naturschutzverwaltung des Vogelsbergkreises und der oberen Naturschutzbehörden aus Gießen und Kassel, des ehrenamtlichen Naturschutzes, der Stadtverwaltung aus Schlitz, von Hessen-Forst und dem örtlichen Naturschutzbund (NABU), der künftig gemeinsam mit regionalen Angelsportlern die ehrenamtliche Betreuung der Schildkröten-Population im FFH-Gebiet übernimmt, waren bei der Auswilderung dabei und hoffen auf eine Verbreitung.

Nicht zuletzt steht auch die Stadt Schlitz hinter dem Projekt. Bürgermeister Hans-Jürgen Schäfer freute sich besonders darüber, dass im Schlitzerland das älteste hessische Artenschutzprojekt seinen Ausgang nahm. Während die vierbeinigen "Stars des Tages" sich an ihrem neuen Wohnort gleich über leckere Wasserschnecken, Egel und Insektenlarven hermachten, sorgte die Stadt Schlitz für die Verköstigung aller zweibeinigen Anwesenden.

Aus Sicht der Wissenschaft würdigte Professor Dr. Rüdiger Wagner das Artenschutzprojekt. Wagner, selbst lange Zeit als Wissenschaftler in der Flussstation des Max-Planck-Instituts in Schlitz tätig und seit langem mit der Region verwurzelt, hat mit seinen Kollegen zahlreiche Informationen über den Schildkrötenbestand an der Fulda zusammengetragen. Die Sumpfschildkröte ist – so Professor Wagner – ein wichtiger Bestandteil der heimischen Biodiversität und sollte als Schlüsselart bald wieder alle naturnahen hessischen Flusslandschaften besiedeln.

Gudrun Baum, zuständige Abteilungsleiterin für Forst und Naturschutz beim Regierungspräsidium Gießen, betonte die Bedeutung des Schutzprojektes im Europäischen Schutzgebietenetz Natura 2000. Die Reptilien seien durch europäisches Naturschutzrecht streng geschützt und würden in den Anhängen II und IV der Fauna Flora Habitat-Richtlinie (FFH-RL) der EU geführt. Im künftigen FFH-Maßnahmenplan, der in den kommenden Jahren für das FFH-Gebiet „Obere und Mittlere Fuldaaue“ erstellt werden solle, seien daher auch Maßnahmen zum Schutz der Population vorgesehen.

Sehr zufrieden mit der Entwicklung des Projektes in den ersten acht Jahren ist Biologin Sibylle Winkel, die sich seit 1999 ehrenamtlich um die Tiere kümmert und mit Matthias Kuprian gemeinsam das Projekt aufgebaut hat. Die Europäische Sumpfschildkröte konnte vor dem Aussterben bewahrt werden und ist heute wieder auf einem guten Weg: in fünf Projektgebieten tummeln sich die kleinen Panzerträger derzeit schon in Hessen. Das „Nahziel“ der AG Sumpfschildkröte ist die Auswilderung junger Sumpfschildkröten in 12 Jahren an 12 Standorten in Hessen bis 2012. In ferner Zukunft, so wünscht sich Sibylle Winkel, sollen die hessischen Sumpfschildkröten die Flussauen zurückerobern und im Rheineinzugsgebiet hoffentlich wieder mit ihren französischen Artgenossen zusammentreffen.

Die europaweite Bedeutung des Projektes stellten die Projektkoordinatoren Winkel und Kuprian heraus. Die hessischen Populationen bildeten einen wichtigen zentraleuropäischen “Brückenkopf” zwischen den letzten Restbeständen in Brandenburg, Frankreich und Österreich. Die hessischen Artenschützer arbeiteten deshalb auch eng mit Partnerprojekten in Brandenburg, Frankreich und der Schweiz zusammen.

Für die neuen Schlüpflinge des Jahres 2007 würden auch Patenschaften vergeben. Ab 70 Euro/Jahr könne man sich oder Freunden und Verwandten ein Geschenk machen, das nicht nur die Schildkröten in Schlitz freuen dürfte.

Hintergrund-Infos zum Artenschutzprojekt:

Die "Neubürger" von Schlitz verbrachten ihre ersten Lebensjahre im Frankfurter Zoo. Der Zoo koordiniert unter Leitung von Rudolf Wicker das Hessische Nachzuchtprogramm und bereitet die Tiere drei bis vier Jahre lang auf die Auswilderung vor, denn als frisch geschlüpfte und kaum mehr als Daumennagel große Minischildkröten haben die Schlüpflinge in der freien Natur nur geringe Überlebenschancen. Ein Teil der künftigen Nachzuchten soll den Tieren in der Fulda auch in den kommenden Jahren Gesellschaft leisten.

Rund 500 junge Schildkröten werden so in verschiedenen hessischen Gewässern ein neues Zuhause finden. Seit 2002 wurden Sumpfschildkröten in folgenden Naturschutzgebieten (NSG) ausgebracht: NSG Reinheimer Teich (Kreis Darmstadt-Dieburg, NSG „Enkheimer Ried“ (Stadt Frankfurt), NSG „Hölle von Rockenberg, NSG „Nachtweide von Dauernheim“ und NSG „Nidderauen von Stockheim“ (alle Wetteraukreis). Weitere 6 Projektgebiete sind in Vorbereitung. Die Mitarbeiter der AG Sumpfschildkröte und Fachgutachter ermitteln dafür die geeignetsten Biotope.

Das Schutzprogramm wurde 1999 von ehrenamtlichen und amtlichen Naturschützern gestartet. Seither wurden rund 150 Tiere nachgezüchtet. In den Projektgebieten werden neue Flachgewässer sowie Sonnen- und Eiablageplätze angelegt. Außerdem werden ausgesetzte Aquarienschildkröten - übermächtige Konkurrenten der kleineren heimischen Art -herausgefangen. Die Kosten für das Schutzprogramm werden zum großen Teil durch ehrenamtliche Arbeit, Spenden und Sponsoring aufgebracht.

Ein sehr interessanter Hinweis auf Graf von Görtz und die Sumpfschildkröten in der Fulda entstammt dem Schlitzer Boten vom 15. Juni 1896. Bereits damals wurde in der Öffentlichkeit für den Schutz der nützlichen Tiere geworben.

SCHLITZER BOTE. "Lokales und Provinzielles. Schlitz, 15. Juni 1896: Wie aus zuverlässiger Quelle mitgeteilt, ist das Vorkommen von Schildkröten in unseren Gewässern dem Umstande zu verdanken, dass Seine Erlaucht der Graf von Görtz eine Anzahl dieser nützlichen Thiere vor längerer Zeit hat aussetzen lassen. Es wäre daher recht wünschenswerth, wenn durch Schonung seitens der Fischerei-Inhaber die Erhaltung und Vermehrung der Schildkröten, die gut überwintert haben, ermöglicht würde.“ +++











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