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Der frühere Oberbürgermeister von Fulda, Dr. Wolfgang Hamberger, hielt eine bemerkenswerte Rede, die hier (fast) im Wortlaut dokumentiert wird

Etwa 1.000 Bürger kamen heute auf den Domplatz

19.08.06 - IM WORTLAUT

Lob für Bündnis, Kritik an Gericht, Frage nach Ursachen: HAMBERGER-Rede

ungültige ID

Auf der Kundgebung des "Aktionsbündnisses für Demokratie und Weltoffenheit" gegen die geplante Demonstration der Neonatus heute Mittag gab es verschiedene Ansprachen, die es wert wären, sie noch einmal nachzulesen. Doch nicht in jedem Fall waren Manuskripte verfügbar. Die Rede des langjährigen Oberbürgermeisters von Fulda, Dr. Wolfgang Hamberger, der 1993 in seiner aktiven Amtszeit den "Überfall der Neonazis" miterleben musste und deshalb besonders starke Erinnerungen hat, war beeindruckend und stimmte nachdenklich. Die Redaktion von "Osthessen-News" hat sich daher entschlossen, diesen Text als Dokumentation zu veröffentlichen. Sie steht unter unserem Titel "IM WORTLAUT", allerdings hat Dr. Hamberger spontan noch kleine Einschübe über den Text hinaus gemacht. Ein Teil davon ist auf unserem AUDIO-Dokument zu finden. Diese Ausschnitte seiner Rede können unsere Leser hören, wenn sie auf den Button ganz oben zu Beginn dieses Textes klicken.

"Bürgerinnen und Bürger von Fulda und aus dem Fuldaer Land, liebe Gäste,daß Sie gekommen sind

- demokratisch gesinnte, tolerante Bürgerinnen und Bürger,

- Repräsentanten der Parteien und Verbände, aus den Kirchen, religiösen Gemeinschaften, Vereinen, und verschiedenen Organisationen,

- dem Rechtsstaat, der Freiheit und der Menschenwürde verpflichtete Politiker,

- religiös gebundene, geprägte Menschen,

- interessierte und engagierte Gäste Fuldas, alles

- Frauen, Männer und Jugendliche, die die große und großartige Geschichte dieser Stadt kennen und schätzen,

dadurch, daß Sie alle gekommen sind, legen Sie eindrucksvoll Zeugnis dafür ab, daß wir weder schweigen, noch gar uns verzagt verstecken, sondern mutig unsere Stimme erheben, wenn gegen den fuldischen Geist verstoßen und das wahre Gesicht Fuldas zu einer Fratze entstellt werden soll! Wir schweigen nicht, wenn das, was uns wert und heilig ist, in Gefahr gerät! D A N K E!

Doch der Grund, der uns heute zu solchem Tun veranlaßt hat, ist in dreifacher Hinsicht äußerst deprimierend, beklemmend und erschreckend:

Deprimierend ist, daß es noch immer Ewiggestrige gibt, die nichts aus der Geschichte gelernt haben,

beklemmend ist, daß die grundgesetzlich garantierte Versammlungsfreiheit auch für Anlässe, Themen und Parolen mißbraucht werden darf, mit denen die Menschen dieser Stadt und unseres Landes nichts zu tun haben wollen, und

erschreckend ist, daß es Gerichte gibt, die dem erstaunten Publikum binnen weniger Stunden das befremdliche Schauspiel liefern, denselben Sachverhalt einmal positiv und das andere Mal negativ zu beurteilen und die Menschen danach mit den Folgen alleine zu lassen.

Die verheerenden Auswirkungen, die der VGH-Beschluß auf die Öffentlichkeit hat, sind von den obersten Richtern offensichtlich nicht bedacht worden, und es ist wohl auch nicht damit zu rechnen, daß sie heute hier erscheinen werden, um die durch ihren unanfechtbaren Beschluß im Großeinsatz befindliche Polizei und die wieder einmal alleine gelassenen Kommunalpolitiker wenigstens moralisch zu unterstützen.

Wir erinnern uns bitter an 1993!

Wann endlich handelt die Politik, um formal-juristisches Handeln nach der reinen Lehre auch als politisch kluges und verantwortbares Entscheiden möglich zu machen?

Kein vorrangig juristisches Geschehen

Wir haben alles schon einmal am 14. August 1993 erlebt. Damals lag – im Gegensatz zu heute – keine ordnungsgemäße Anmeldung vor. Vielmehr wurde im Vorfeld raffiniert getäuscht, mit der Polizei spielten die Neo-Nazis den ganzen Tag über Katz und Maus, und nur dank der aus Thüringen in letzter Minute eingeflogenen Polizeikräfte konnte die Katastrophe verhindert werden, zu der es bei einem Zusammenstoß der 500 Neo-Nazis mit einer gleichgroßen Gruppe Autonomer höchst wahrscheinlich gekommen wäre.

Ein Teil der bestens informierten Medien berichtete damals über Fulda so, als sei hier der ideale Aufmarschplatz für Rechtsradikale. Das, was am 14. August 1993 in Fulda passierte, war eine Katastrophe für die Demokratie, und was dem dann folgte, war ein Trauerspiel für viele Demokraten, die sich in einer von den Medien aufgeheizten Stimmung wechselseitig mit schweren Vorwürfen konfrontierten und sich vom eigentlichen Gegner ablenken ließen. Diese Gefahr bestand diesmal gottlob nicht. Denn da die Ausgangslage grundlegend anders war, konnte sich in großartiger Weise rechtzeitig ein ebenso einmaliges wie vorbildliches Aktionsbündnis über alle Partei- und sonstigen Grenzen hinweg formieren. Dafür möchte ich allen, die daran Anteil haben, Dank und großen Respekt bekunden!

HÖREN Sie hier einen weiteren Rede-Ausschnit als AUDIO-Ton von Dr. Hamberger. Bitte klicken Sie auf den folgenden Link:

http://www.osthessen-news.de/Media/av/060819_FD_Hamberger2.mp3 +++

Aber wir müssen uns darüber im klaren sein und bleiben, daß wir es bei der Existenz von Neo-Nazi-Gruppen nicht nur mit juristischen Tatbeständen, sondern zuerst mit einem sozialen und alsdann mit einem politischen Problem zu tun haben. Deshalb müssen wir uns selbstkritisch auch immer wieder fragen, was von wem auch immer möglicherweise verabsäumt wurde, daß ein Teil der jungen Generation noch immer nicht in unserem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat angekommen ist. In diesem Punkt sind und bleiben alle politischen Parteien gefordert. Deshalb wäre es ein großartiger Nebeneffekt dieses Tages, wenn das, was in der Stadtverordnetenversammlung und dem Kreistag schon geschieht, durch ein außerparlamentarisches Aktionsbündnis, frei von Berührungsängsten und Profilierungssüchten, nachhaltig unterstützt würde.

In Fulda, der 1262 Jahre alten bonifatianischen Gründung, darf man in diesem Zusammenhang auch auf einen anderen Aspekt hinweisen. Nach christlichem Glauben hat Gott der Menschheit zur Vollendung seines Heilsplanes eine ganz besondere Rolle zugedacht, nämlich die, alles zu tun, sich und die Welt zu erlösen. Aber er hat den Menschen die Freiheit der Entscheidung gelassen.

In diesem Jahr gedenken wir ob der Wiederkehr seines 1150. Todestages in besonderer Weise des gelehrten Benediktiners Rabanus Maurus, der von 822 - 842 Abt in Fulda war, und dem die neuzeitliche Geschichtsschreibung den Ehrentitel eines „Praeceptor Germaniae“ gegeben hat. Von ihm stammt der wunderbare Hymnus „Komm‘ herab oh Heil‘ger Geist, der die finst‘re Nacht zerreißt, strahle Licht in diese Welt“. Wo auch immer wir als einzelne religiös, weltanschaulich offen und geistig-kulturell stehen, uns allen sollte klar sein, daß nur ein heiliger Geist zur Unterscheidung der Geister befähigt!

Wir sind hier zusammengekommen, um gegen das Wirken des Ungeistes in der Welt zu demonstrieren, aber wir müssen uns immer wieder neu dazu befähigen, die Zeichen der Zeit zu erkennen, sie vom Zeitgeist zu unterscheiden!

Was wir heute hier tun, weist uns als in diesem Sinne qualifizierte Menschen aus, denn wir wissen, daß ein Neo-Nazi-Aufmarsch vor dem Hintergrund unserer tragischen Geschichte nicht vorrangig juristisch, sondern politisch und moralisch zu beurteilen ist.

Was zeichnet Fulda und die Fuldaer aus?

Die Fuldaer waren und sind grundsätzlich weltoffen, tolerant, in hohem Maße immun gegenüber extremen Parolen, traditionsbewußt und in ihrer Mehrheit christlich geprägt. Damit haben sie sich an jenen Werten orientiert, die Fulda von Beginn an zu einem religiösen und geistig-kulturellen Zentrum, einem ganz besonderen Geschichtsort gemacht haben. Das ist z.B. zu erkennen:

- an Fuldas baugeschichtlichen Zeugnissen,

- an der Geschichte des Klosters und der Fürstabtei, insbesondere der Klosterschule, den dort wirkenden Lehrern und einer für das frühe Mittelalter herausragenden Bibliothek,

- an der schon im Mittelalter großen, geistig bedeutenden jüdischen Gemeinde,

- an der Tatsache, daß hier der Deutsche Evangelische Kirchentag zu Hause ist

- an dem Umstand, daß sich Fulda trotz der Erfordernisse der modernen Zeit weitgehend sein Gesicht bewahren konnte, und

- nicht zuletzt an eindrucksvollen politischen Fakten, so wie sie auch wieder dieses Aktionsbündnis setzt.

Nur einige wenige Zahlen zum Beweis. Die Mehrheit der Fuldaer Bürgerschaft schwamm schon in der Endphase der Weimarer Republik nicht auf der Woge der nationalsozialistischen Ideologie, und das änderte sich auch nicht, als Terror und Gewalt bei den letzten freien Reichstagswahlen vor Beginn des Dritten Reiches zu massiven Einschüchterungen führten. Am 5. März 1933 bekam das Zentrum im Stadtkreis Fulda 51% der Stimmen, während es Hitlers NSDAP nur auf 27% brachte. Ein noch besseres Ergebnis brachte die gleichzeitig durchgeführte Kommunalwahl; das Zentrum bekam 59,4% und die NSDAP nur 25% der Stimmen. Wäre überall in Deutschland so wie in Fulda gewählt worden, Hitler hätte niemals an die Macht kommen können!

In alledem und durch die Menschen, die das alles bewirkt und bewahrt haben, ist Fulda zu einem nach innen Identifikation stiftenden Platz und nach außen zu einer positiv wahrgenommenen Stadt geworden, die, wie uns viele Gäste immer wieder bestätigen, durch nachhaltige Erinnerungs-Wahrnehmung sympathisch gekennzeichnet ist. Auf der Grundlage seiner großen Geschichte hat das alles Fulda zu einem bedeutenden Geschichtsort gemacht!

Konsequenzen

Demokratie lebt von der Wachsamkeit der Demokarten und dem Kompromiß über Parteigrenzen hinweg. Nicht wer Recht hat, ist wichtig, sondern diejenigen sind es, die der Wahrheit und dem Recht zum Durchbruch verhelfen. Diese Einsicht muß wachsen, und deshalb müssen wir uns in dieser Haltung auch immer wieder üben. Aber der demokratische Rechtsstaat ist vielfältigen Gefahren ausgesetzt, bei deren Abwehr alle Demokraten – so, wie hier und heute vorbildlich – eng zusammenstehen müssen.

Verstand und Gefühl sind keine Gegensätze; nur wer gleichermaßen mit heißem Herzen und kühlem Verstand zu handeln weiß, hat Erfolg. Die Menschen in der ehemaligen DDR haben es vor 16 Jahren mit ihrer friedlichen Revolution großartig bewiesen. Geist, Kultur und noch so hohe Werte-Vorstellungen des Einzelnen sind keine Garantie dafür, daß nicht doch andere die Würde des Menschen verletzen und gewissenlos, inhuman, ja leider oft genug barbarisch und mörderisch handeln. Die Gemeinschaft muß diese Werte-Vorstellungen des guten Geistes leben!

Das ist und bleibt unsere Aufgabe Tag für Tag!"

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