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Im Klassenzimmer der Familie Bauer in Ehrinshausen werden die Kinder - wie hier im Mai 2003 - auch heute von den Eltern unterrichtet. - Bilder (5): Max Colin Heydenreich

14.06.06 - Alsfeld

Geldstrafe von je 1.000 Euro gegen Eltern, die ihre Kinder nicht in Schule schicken

Das Amtsgericht Alsfeld hat heute gegen ein Elternpaar aus Gemünden-Ehringshausen (Vogelsbergkreis) verhandelt, weil es sich aus religiösen Gründen weigert, seine achtjährige Tochter in die Schule zu schicken. Vater und Mutter wurden wegen Verletzung der Schulpflicht im Wiederholungsfall zu einer Geldstrafe von je tausend Euro verurteilt und sind jetzt vorbestraft.

Die 38-jährige Mutter und der 41-jährige Vater sind streng religiös und wollen ihre acht Kinder nach eigener Aussage zu Gehorsam, Schamhaftigkeit und Liebe zu Gott erziehen. An öffentlichen Schulen würden ihre Erziehungsideale missachtet, die Evolutuonstheorie statt der Schöpfungsgeschichte gelehrt und das Thema Sexualität zu oft und zu früh angesprochen. Im Jahr 2004 hatte das Oberlandesgericht Frankfurt ein Urteil des Gießener Landgerichts bestätigt, wonach das Ehepaar seine Kinder in die Schule schicken muss. In dem ersten Verfahren vor dem Alsfelder Amtsgericht im April 2003 waren die Eltern zunächst freigesprochen worden, weil der Richter die Religionsfreiheit der Eltern über die Schulpflicht gestellt hatte. Das Gießener Landgericht hatte dann dieses Urteil im November 2003 als nächste Instanz aufgehoben.

Unsere Redaktion hatte über diesen spektakulären Rechtsstreit im Jahr 2004 ausführlich berichtet und mit den Eltern und Kindern gesprochen. Um deren Motive und die Hintergründe des Home-Schoolings nachvollziehen zu können, bringen wir den Bericht noch einmal im Wortlaut.

Acht Geschwister lernen unter Anleitung der Muttter zu Hause -

Gericht wertet Religionsfreiheit der Eltern höher als Schulpflicht

Ende April 2003 ist ein Elternpaar aus einem Dorf im Vogelsberg vom Amtsgericht Alsfeld freigesprochen worden, obwohl unstrittig ist, dass sie fünf ihrer acht Kinder jahrelang der "Schulpflicht entzogen" und sie stattdessen zu Hause unterichtet haben. Zu freizügigen Sexualkundeunterricht, Evolutionstheorie statt göttlicher Schöpfung und Untergrabung der elterlichen Autorität werfen die Eltern der staatlichen Schule vor. Der Richter hatte diese vermeintlich religiösen Gründe der Eltern für die Schulverweigerung stichhaltig gefunden und argumentiert, er könne und wolle die Familie nicht mit einer Ordnungsstrafe kriminalisieren. Denn als "Überzeugungstäter" wollen die Bauers auch ihre drei - jetzt noch nicht schulpflichtigen - Kinder niemals in eine reguläre Schule schicken.

Die Adresse der Familie Bauer im Vogelsbergdorf Ehringshausen ist Programm: in der "Schulgasse 1" werden fünf der acht Kinder in der hauseigenen Zwergschulklasse von Mutter Sigrid unterrichtet. Die drei Kleinen, Rahel (5 Jahre), Silas (3) und Baby Jessica mit 4 Monaten sind zwangsläufig auch dabei, wenn Sigrid Bauer die Stundenpläne ihrer älteren Kinder koordiniert. Lucas (9) und Tim (11) üben deutsche Grammatik, während Rebecca (15) mit ihren ein und drei Jahre jüngeren Schwestern Damaris und Samara Englisch paukt. Im kinderzimmerkleinen Schulraum des alten Bauernhauses - gleich rechts neben der Haustür - stehen richtige Schulbänke und -stühle, von Freunden gestiftet. Der PC und die Weltkarte an der Wand sind nicht eben die neuesten Modelle, erfüllen aber ihren Zweck. "Im Winter haben wir auch mal was ausfallen lassen, wenn es ausnahmsweise geschneit hat, und sind stattdessen Schlitten gefahren", erklärt Sigrid Bauer ihren individuellen und variablen Unterrichtsstil. Denn gelernt werde immer gemeinsam und auch außerhalb des Klassenzimmers, - so im eigenen Pferdestall und bei der Versorgung von Hühnern und Enten oder wenn die Mädchen das Baby baden und wickeln.

"Wir stehen alle um fünf Uhr auf und frühstücken, dann machen wir Frühsport, Gymnastik, Joggen oder Reiten, dann kommt der Unterricht", berichten die Kinder über ihren Alltag.Die 35-jährige Mutter und Hausfrau mit selbstgewähltem Lehrauftrag, die ihre eigene Schulzeit mit Mittlerer Reife abgeschlossen hat, ist überzeugt, dass keins ihrer Kinder Bildungsdefizite hat - im Gegenteil. Zwar muss sie sich den Stoff in Physik und Chemie für jede Unterrichtsstunde auch erst intensiv anschauen, aber ihre Schüler seien viel motivierter, als in überfüllten Norm-Klassenzimmern möglich ist: "Gerade haben wir Zwiebeln gesetzt und Möhren und Petersilie gesät. So was heißt dann in der Schule `Projektwoche´", sagt sie spöttisch. Offensichtlich hat sie beim Privat-Unterricht keinerlei Disziplin- oder Durchsetzungsschwierigkeiten, die Kinder dürfen an der Wissensvermittlung aktiv teilhaben und machen praktikable Vorschläge zur Unterichtsgestaltung.

Vater Michael Bauer, gelernter KfZ-Mechaniker, wirkt leicht angespannt, wenn er von der Gerichtsverhandlung erzählt, die - auch für ihn und seine Frau überraschend - mit ihrem Freispruch endete. Das Staatliche Schulamt hatte das Paar angezeigt, nachdem es im Juni 2001 die drei Töchter aus der Gesamtschule und die beiden Söhne aus der Grundschule schriftlich abgemeldet hatte. Nein, einen richtigen Eklat hatte es in den Schulen zuvor nicht gegeben, es habe sich so "zusammengehäuft", sagt seine Frau: Erst die Klassenfahrt von Lucas, auf die Bauers ihren Sohn nicht mitfahren lassen wollten. "Da hat die Lehrerin zuerst behauptet, das sei Pflicht, da würden wir gar nicht gefragt. Dann sollten wir aber eine Einverständniserklärung unterschreiben", erinnert sich der Vater kopfschüttelnd und sah seine Autorität von der Schule untergraben.

Bei Tim war es der Besuch eines Weihnachtsmärchens im Gießener Theater, das den Widerstand der Eltern erregte: So ein "okkultes Märchen", das mit dem christlichen Ursprung des Heiligen Abends gar nichts zu tun hatte, wollten sie ihrem Kind nicht zumuten. ("Das war irgendsowas mit einem Zauberwald", sagt der 11-Jährige.) Aber alle Einwände der Eltern waren bei den Lehrern abgeprallt: "Wir sind ausgebildete Pädagogen und wissen genau, was wir zu tun und zu lassen haben", seien sie abgeschmettert worden. Nach der Abmeldung aus den Schulen habe auch das Jugendamt eine häusliche Kontrolle bei ihnen veranlasst - aber nichts beanstandet, erzählen die Eltern. "Mit acht Kindern gilt man ja schnell als asozial".

Und schließlich gab die vorgeschriebene Schullektüre von Peter Härtlings "Ben liebt Anna" den letzten Ausschlag. Michael Bauer weiß, dass das Jugendbuch mehrere Preise bekommen hat und an sich mit der Thematik "Integration von Aussiedlern" auch für ihn durchaus seine Berechtigung hat. Aber dass im Unterricht eigens auf eine Szene, in der zwei 12-Jährige nackt baden und sich küssen, eingegangen werden sollte, fand er verfrüht. Grundsätzlich würden die Kinder in der Schule zu jung und überhaupt zu häufig mit Sexualität konfrontiert, kritisiert er. Auch die Evolutionstheorie, die in diametralem Gegensatz zur biblischen Schöpfungsgeschichte stehe, werde in der Schule gegen seinen Wunsch und Willen gelehrt. Dem allem wolle er seine Kinder nicht ausssetzen, hatte Michael Bauer vor Gericht argumentiert. Die seien mittlerweile in der Philadelphia-Schule in Siegen, der ersten bundesdeutschen Heimschule nach amerikanischem Vorbild, angemeldet. Von dort bekommt Sigrid Bauer ihr Unterichtsmaterial und Fernunterricht per Internet, die Kinder könnten mit externer Prüfung den Haupt- und Realschulabschluss machen.

Familie Bauer ist - im Gegensatz zum hessischen Kultusministerium - davon überzeugt, die staatliche Anerkennung der Schule sei nur noch eine Frage der Zeit. Durch seinen Vortrag bei Gericht habe beim Richter offenbar ein Sinneswandel stattgefunden, meint Michael Bauer. Anfangs habe er noch fest mit dessen Verständnislosigkeit und der Verhängung eines Bußgeldes gerechnet. Auch ihre Anwältin habe wesentlich zu dem Freispruch beigetragen, indem sie den Richter auf ein kürzlich erfolgtes Urteil verwiesen habe, nach dem Moslems aus religiösen Gründen nicht zur Teilnahme am schulischen Sportunterricht gezwungen werden könnten. Dennoch hatte der Staatsanwalt plädiert, die angeklagten Eltern hätten schuldhaft und bewusst gegen das Schulgesetz verstoßen und sich strafbar gemacht. Auch bei negativen Vorkommnissen in der Schule gebe es keinen Anlass, die Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken. Denn was den einen erlaubt würde, gelte dann auch für alle anderen Eltern - "und das würde den staatlichen Unterricht aushöhlen".

Doch dem Antrag des Staatsanwalts auf Verhängung eines Bußgeldes von 800 Euro wollte der Richter nicht folgen. Die Eltern hätten weder willkürlich noch bösartig gehandelt, ihre Gründe seien zu respektieren, wenngleich sie nicht vom Gericht zu bewerten seien, sagte er zur Begründung des Freispruchs. Ob die Kinder der Familie Bauer jemals ein anderes Klassenzimmer als das hauseigene in der Schulgasse 1 zu Gesicht bekommen, steht noch nicht fest. Die Staatsanwaltschaft Gießen hat bereits Rechtsmittel gegen den Freispruch eingelegt. (Carla Ihle-Becker) +++

HINTERGRÜNDE

.....zur Home-schooling-Bewegung und Philadelphia-Schule Münster

Bereits in mehreren Bundesländern haben sich Gerichte mit dem Phänomen von religiös begründeter Schulverweigerung auseinandergesetzt - und dabei in letzter Instanz bisher immer zugunsten der Schulbehörden entschieden. Aus fundamentalistisch-christlichen Gründen verwehren die Anhänger der aus den USA stammenden "Home-schooling-Bewegung" ihren Kindern den Besuch staatlicher Schulen und unterrichten sie zu Hause. In vielen Fällen wurden und werden sie dabei - juristisch und moralisch - von der Philadelphia-Schule in Siegen. Deren Leiter, der 69-jährige Helmut Sticher lehnt die Schulpflicht in der jetzigen Form durch die Präsenz in einem lokalen Schulgebäude ab, hat seine elf eigenen Kinder ebenfalls zu Hause unterrichtet und dafür auch eine Gefängnisstrafe abgesessen, weil er die Zahlung von Bußgeld grundsätzlich ablehnt. Sein Vorwurf: Die Schule vermittele falsche Inhalte wie Unzucht, Schamlosigkeit, Ehebruch, Homosexualität - die Kinder kämen zwangsläufig mit " dem Bösen" in Berührung.

Außer den von den zu Hause unterrichtenden Eltern immer wieder als unchristlich attackierten Lehrinhalten der Fächer Sexualkunde, Biologie und Religion werden angeblich "okkulte Praktiken" in der Schule kritisiert. Gemeint sind - wie die Eltern in mehreren Bundesländern vor Gericht erklärten - die in vielen Grundschulen üblichen Stuhlkreise und so genannte Traum- oder Fantasiereisen als Entspannungs und Konzentrationsübungen. Auf der Internet-Seite der Philadelphia-Schule, Münster, die sich selbst als christliche Heimschulorganisation bezeichnet, nimmt die Argumentation gegen Fantasiereisen breiten Raum ein. Auf vielen Seiten wird die Gefährlichkeit der von "Esoterikern in der Schulverwaltung" angeordneten Traumreisen beschworen. Diese führten zu "tranceartigen Bewusstseinszuständen, außerkörperlichen Erfahrungen, zur Kontaktaufnahme mit unsichtbaren Wesen und Mächten und zu übernatürlichen Fähigkeiten". Grundschullehrer werden von Heimschulanhängern zu Steigbügelhaltern des Bösen schlechthin stilisiert.

Das hessische Kultusministerium behandelt in seiner neuesten Ausgabe von "SchulRecht aktuell" den "Unterricht zu Hause aus religiösen Gründen" und urteilt, der staatliche Erziehungsauftrag und das elterliche Erziehungsrecht seien jeweils eigenständig und gleichgeordnet. Weder dem einen, noch dem anderen komme ein Vorrang zu. Es bestehe somit nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ein gemeinsamer Erziehungsauftrag von Schule und Eltern. Die Eltern mit einem fundamentalistischen Wertekanon versuchten dagegen, ihrem Weltbild über eine möglichst lückenlose Kontrolle der Kontakte ihrer Kinder mit der Umwelt zum Durchbruch zu verhelfen.

Die bundesweite Rechtsprechung der letzten fünf Jahre habe einhellig die Unzulässigkeit des home-schooling bestätigt. Auch sei die Philadelphia-Schule keine Schule im Sinne des Landesschulgesetzes. Bei diversen Urteilsbegründung sei wiederholt ausführlich dargelegt worden, dass eine Unzumutbarkeit des Schulbesuchs aufgrund anderer religiöser Wertvorstellungen nicht gegeben sei. Den Eltern bleibe es schließlich unbenommen, ihre Kinder neben der Schule nach eigenen religiösen und weltanschauliche Vorstellungen zu erziehen. Wie Harald Achilles, Jurist im Kultusministerium, abschließend zutreffend feststellt, könne mit dieser Rechtsprechung aber nicht der grundlegende Konflikt gelöst werden, der in einer gänzlich anderen Wahrnehmung der schulischen und gesellschaftlichen Realität wurzele.

STELLUNGNAHME der Philadelphia-Schule vom 15.06.2006

Weder Herr Stücher noch die Philadelphia-Schule lehnen die Schulpflicht als solche ab. Wir haben grundsätzlich mit einer Schulpflicht wie sie in anderen europäischen Ländern verstanden wird, nämlich als Bildungspflicht, keinerlei Probleme, ganz im Gegenteil. Da uns die qualifizierte Bildung unserer Kinder sehr am Herzen liegt, können wir Schulverweigerung nicht gutheissen.

In Deutschland kann derzeit die Schulpflicht nur durch die Präsenz in einem lokalen Schulgebäude erfüllt werden. Diese enge Interpretation ist in der europäischen Union eine absolute Ausnahmeerscheinung, da andere Länder verschiedene Möglichkeiten zur Erfüllung der Schulpflicht zulassen z.B. den Unterricht zu Hause. In Irland und Großbritannien ist dies durch den Education Act sogar in der Verfassung verankert. Schätzungsweise 160.000 zu Hause lernende Kinder in Großbritannien zeugen von der Beliebtheit von Homeeducation.

Die Philadelphia-Schule setzt sich daher für eine Deregulierung des Schulsystems und eine Umwandlung des strafbewehrten Schulzwangs in eine Bildungspflicht ein. Es ist leider im Allgemeinen kaum bekannt, dass die heutige Form des Schulzwangs ihre Wurzeln in Hitlers Reichschulgesetz von 1938 hat. Was unser Bildungssystem heute braucht ist nicht noch mehr Zwang und Regulierung, sondern Mut zu neuen Wegen und eine breite Palette von Möglichkeiten die Schulpflicht zu erfüllen. Dazu zählen wir neben den staatlichen Schulen auch freie Schulen, internationale Schulen, e-Learning, Fernschulen, Familien- und Dorfschulen und Homeschooling.

Die positiven Erfahrungen, die andere Länder mit alternativen Bildungswegen gemacht haben, können auch Deutschland nützen. Wenn deutsche Bildungspolitiker Homeeducation als eine interessante Bereicherung und Ergänzung, statt als Bedrohung ihres Bildungsmonopols wahrnehmen würden, könnte dies die verhärteten Fronten zwischen beiden Parteien aufbrechen. Profitieren davon würden die betroffenen Kinder.

Mit freundlichen Grüßen

Jörg Großelümern

Philadelphia-Schule e.V.

Freies christliches Heimschulwerk

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