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17.05.06 - Region

Neue Versorgungskonzepte für Schmerzpatienten - Chronifizierung vermeiden

Hessens Schmerztherapeuten haben im März dieses Jahres einen Verband gegründet. Die Ärzte wollen nun die qualitätsgesicherte Schmerztherapie in Hessen ausbauen und mit neuen Konzepten die Versorgung von Patienten verbessern. Ziel ist die frühzeitige und kompetente Behandlung, um Chronifizierungsprozesse zu vermeiden. Nach einem erfolgreich angelaufenen Pilotprojekt zur Behandlung von Patienten mit Rückenschmerzen soll jetzt ein Projekt für Patienten mit problematischen Schmerzen auf den Weg gebracht werden. Entsprechende Verhandlungen mit Krankenkassen laufen.

»Unsere wichtigsten Ziele sind der Ausbau der qualitätsgesicherten Schmerztherapie mit einem Schwerpunkt in der Prävention sowie eine flächendeckenden Versorgung von Patientinnen und Patienten mit akuten, problematischen und chronischen Schmerzen in Hessen«, erklärte heute der Frankfurter Schmerztherapeut Dr. med. Benedikt Eberhardt, Vorsitzender des neu gegründeten Verbandes Hessischer Schmerztherapeuten (VHST), bei einem Pressegespräch in Frankfurt. Dabei spielen innovative Versorgungskonzepte eine große Rolle, die der Verband entwickelt hat und nun umsetzen will. Darüber hinaus sieht sich der VHST als Verhandlungspartner und Berater von Krankenkassen, Kassenärztlicher Vereinigung und politischen Institutionen.

Die Defizite der derzeitigen Versorgung von Patienten, die unter Schmerzen leiden, sind der Grund dafür, dass der VHST gegründet wurde. »Unser Versorgungssystem selbst trägt wesentlich dazu bei, dass Schmerzen chronisch werden«, kritisierte Eberhardt. Ausbildungsmängel der Ärzte in Schmerzmedizin sorgen in Verbindung mit einem Mangel an spezialisierten Einrichtungen dafür, dass Patienten mit einem Risiko für Schmerzchronifizierung vielfach zu spät kompetent behandelt werden. So belegten neue Untersuchungen, die vom Bundesforschungsministerium gefördert wurden, dass im Schnitt zehn Jahre vergehen, bis Patienten mit wiederkehrenden Rückenschmerzen von Schmerzspezialisten behandelt werden. »Dabei wissen wir, dass etwa bei Rückenschmerzen die entscheidenden Weichen in den ersten drei Monaten gestellt werden«, betonte Eberhardt. Und für alle Schmerzformen gilt grundsätzlich: Je länger Schmerzen bestehen und ungenügend behandelt werden, desto schwieriger ist es, den verhängnisvollen Prozess der Chronifizierung zu stoppen. »Doch das Prinzip der Prävention der Schmerzchronifizierung ist in unserem Versorgungssystem überhaupt nicht verankert, kritisierte Eberhardt.

Über eine halbe Million Schmerzpatienten in Hessen

In Deutschland leiden etwa 15 bis 17 Prozent der Erwachsenen, das sind zehn bis elf Millionen Menschen, an chronischen oder wiederkehrenden Schmerzen. »In Hessen gibt es schätzungsweise 750.000 bis 850.000 Schmerzpatienten, wobei etwa 550.000 schwer betroffen sind«, rechnete der Fuldaer Schmerz- und Palliativmediziner Thomas Sitte vor. Neue Untersuchungen und die Erfahrung der Schmerztherapeuten belegten, dass 20-25 Prozent der Patienten Suizidgedanken haben.

Aufgrund der demographischen Entwicklung wird die Zahl betroffener Patientinnen und Patienten weiter steigen – mit erheblichen Folgen für das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft. Die Kosten für die medizinische Behandlung von Muskel-Skelett-Erkrankungen (u.a. Rückenschmerzen, Arthrosen, Osteoporose, Fibromyalgie, rheumatische Polyarthritis) betragen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland jährlich 25,2 Mrd. Euro. , für die Behandlung von Migräne werden 462 Millionen aufgewendet. »Dies bedeutet für Hessen, dass in unserem Bundesland schätzungsweise 1,83 Mrd. Euro für Muskel-Skelett-Erkrankungen und 33,8 Millionen Euro für Migräne ausgegeben werden. »Ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen, der eine bislang übliche »Patientenkarriere« durchläuft, kostet die Gesellschaft binnen drei Jahren über 112.000 Euro«, hat Sitte ausgerechnet.

Versorgungslücken: In Hessen gibt es derzeit etwa 60 Schmerztherapeuten

In Hessen gibt es derzeit etwa 60 Schmerztherapeuten. Die meisten sind so überlaufen, dass Patienten bis zu drei Monate, in manchen Einrichtungen auch länger warten müssen, bis sie einen Termin bekommen. »Diese Zahl müsste verdoppelt werden, um annähernd den Bedarf zu decken«, betonten Sitte und Eberhardt, »vorausgesetzt, dass eine Weiterbildung für alle Ärzte in allgemeiner Schmerztherapie etabliert wird, so dass kleinere Schmerzprobleme gelöst und nur schwierigere Fälle zu Spezialisten überwiesen werden.«

Um diesen Trend zu durchbrechen haben die Schmerztherapeuten neue Konzepte für die integrierte Versorgung entwickelt. So werden im Rahmen eines Pilotprojektes, das die Experten bundesweit mit der Techniker Krankenkasse und der GEK auf den Weg gebracht haben, Rückenschmerz-Patienten behandelt. Die Krankenkasse spricht mit diesem Intensivprogramm gezielt Versicherte an, die sich bereits seit längerer Zeit wegen Rückenschmerzen in ärztlicher Behandlung befinden, arbeitsunfähig und nicht schmerzfrei sind. Das Prinzip: Schmerz-, Psycho- und Physiotherapeuten arbeiten Hand in Hand. »Das Vier-Wochen-Intensiv-Programm umfasst pro Woche drei bis vier Tage Schmerztherapie von morgens bis abends.

Das Programm beinhaltet neben der medizinischen Therapie Herz-Kreislauf- und Krafttraining, Krankengymnastik und das Training von Alltagsbewegungen. Hinzu kommen Biofeedback, Gesprächsstherapien, Entspannungs- und Schmerzbewältigungsstrategien. Darüber hinaus muss der Patient »Hausaufgaben« machen und regelmäßig über seine Fortschritte Buch führen.« So beschrieb der Wiesbadener Schmerz- und Palliativmediziner Dr. med. Thomas Nolte das Therapiepensum der Patienten.

»Durch die hochintensive und vernetzte Versorgung sind die Patienten schneller wieder schmerzfrei. Das Ziel ist: Die Betroffenen werden schneller wieder gesund, Rückfälle werden vermieden. Das bedeutet mehr Lebensqualität für den Patienten und weniger Behandlungskosten«, betonte Thomas Hilgenberg, Sprecher der Techniker Krankenkasse, Landesvertretung Hessen. Darüberhinaus werde, so Hilgenberg weiter, ein neuartiges Vergütungssystem erprobt. Wenn der Patient nach vier Wochen wieder arbeitsfähig ist bekommt der Arzt einen Bonus auf die Vergütung, wenn der Patient nach acht Wochen noch nicht arbeitsfähig ist erhält er einen Abzug.

Erste Erfahrungen bei Rückenschmerzen

Im Schmerzzentrum Wiesbaden wurden bislang 20 Patienten nach dem neuen Konzept betreut. Sieben weitere Patienten befinden sich derzeit noch in Behandlung. Für neun weitere Patienten war die Therapie nicht geeignet. Von den 20 Patienten, deren Behandlung abgeschlossen ist, nahmen 18 die Arbeit wieder auf: acht binnen vier Wochen, zehn weitere binnen acht Wochen. Nur bei einem Patienten versagte der Ansatz, ein zweiter brach die Behandlung wegen anderer Gesundheitsprobleme ab.

Die bisherigen Erfahrungen mit den integrierten Versorgungsverträgen stimmen die Experten optimistisch. »Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass unser Konzept aufgeht«, so Nolte. »Wir können bei diesem Projekt zeigen, was eine moderne Schmerzmedizin zu leisten vermag, wenn sie rechtzeitig eingesetzt wird – dann, wenn sich der Patient mit problematischen oder anhaltenden Schmerzen noch in einem frühen Stadium der Chronifizierung befindet.«

Konzept für Patienten mit problematischen Schmerzen

Darum steht inzwischen auch ein Konzept für die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit problematischen Schmerzen. Als problematisch bezeichnen die Experten beispielsweise Nervenschmerzen, Schmerzen bei einer Gürtelrose, akute Rückenschmerzen, bei denen die Patienten zusätzliche Risikofaktoren haben, Kopfschmerzen an mehr als zehn Tagen pro Monat, unzureichend behandelte Tumorschmerzen oder wiederkehrende Schmerzen, die ein hohes Chronifizierungsrisiko haben.

»Das integrierte Versorgungskonzept zur Prävention der Schmerzchronifizierung ergänzt die Behandlungsmöglichkeiten bei akuten, anhaltenden und unzureichend behandelten Schmerzen«, erläutert Nolte. Dazu arbeiten Haus- und Fachärzte, Schmerztherapeuten, Tageskliniken und Krankenhäuser vernetzt zusammen. Wie bei den Rückenschmerzpatienten spielen bei diesem Konzept aber auch die Krankenkassen eine wichtige Rolle: Sie lotsen Risikopatienten in ein Screening, das die Weichen für eine abgestufte Schmerzbehandlung stellt.

»Wir gehen davon aus«, betont Nolte, »dass sich dieses Konzept nach Ablauf der Anschubfinanzierung von selbst trägt, da medizinische und soziale Folgekosten unzureichend behandelter Schmerzen eingespart werden. Dies soll durch eine wissenschaftliche Begleitforschung überprüft werden. »Aber insbesondere die Betroffenen werden aufatmen, wenn die Weichen für eine koordinierte Schmerzversorgung neu gestellt werden«, sagt der Wiesbadener Schmerztherapeut. +++

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