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- Martin Angelstein

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30.05.02 - Bad Hersfeld
Heute vor 60 Jahren: Deportation der letzten Juden
Auf dem Bahnsteig 1 des Bad Hersfelder Bahnhofes hat die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Hersfeld-Rotenburg am gestrigen Donnerstag der Deportation und Ermorderung der letzten sieben Juden vor genau 60 Jahren gedacht. "Wir wollen den Opfern ein Gesicht geben" sagte der evangelische Vorsitzende und Geschäftsführer Werner Schnitzlein bei einer Gedenkfeier. Die "Sieben von Bad Hersfeld" müssten genauso unvergessen bleiben wie der millionenfache Mord an den Juden während der Nazi-Herrschaft.
Am 30. Mai 1942, es war ein Samstag, gab es in der osthessischen Stadt Bad Hersfeld zwei Ereignisse, die von der Bevölkerung unterschiedlich wahrgenommen wurde. Während in der überfüllten Kulturhalle auf einer Parteiveranstaltung der NSDAP die Menge dem Hauptredner Roland Freisler, dem später berüchtigten Präsidenten des Reichsgerichtes zujubelte, nahm von einem anderen Ereignis kaum jemand Notiz. Sieben Männer und Frauen, die bis zur "Umsiedlung" bei Simon Goldschmidt im Haus Bahnhofstraße 11 in Bad Hersfeld wohnen mussten, wurden zum Bahnhof gebracht. "In Polizeibegleitung und nur mit Handgepäck" wie eine Zeitzeugin beobachtete und berichtete.
Auf Gleis 2 fuhr an diesem Nachmittag gegen 16 Uhr der "Sammeltransport" ein, in den bereits in Hanau und Fulda viele Juden hatten einsteigen müssen. In Kassel - der nächsten Station - wurde der "Sammeltransport" mit dann mehr als 1.000 Menschen komplettiert. Für sie wie auch für die Sieben aus Bad Hersfeld sollte es ein Abschied vom Leben werden. Sie gelten seither als verschollen - ihr Todesort und die Zeit sind unbekannt. Minna Goldschmidt (57), Regina Goldschmidt, geborene Nordhäuser (57), Simon Goldschmidt (58), Feige Leicht, geborene Levin (52), Elfriede Levi (35), Emma Levi (67) und Recha Levi, geborene Nathan (64) kamen in einem "Sammeltransport" nach Majdanek, einem der bekanntesten Nazi-Vernichtungslager in Polen.
"Hersfeld ist judenfrei" so berichtete dann mit Unterschrift, Stempel und Datum vom 30. Mai 1942 der damalige Stadtinspektor Friedrich Taubert pflichtbewusst in einer Liste an den Landrat. Gefunden hat diese Dokumente der seit Jahren engagierte Hersfelder Heimatforscher Otto Abbes. Einige Dokumente im Zusammenhang mit der Judendeportation wurden am gestrigen Donnerstag bei der Gedenkfeier auf dem Hersfelder Bahnhof gezeigt.
Unter den knapp 30 Gästen auf Bahnsteig 1 war auch der stellvertretende Stadtverordnetenvorsteher Dr. Rolf Göbel. Er erinnerte an den Beschluss der Stadtverordnetenversammlung - der auf Schildern an vielen exponierten Stellen im Stadtgebiet zu lesen ist - wonach Rassismus, Antisemitismus, Fremden- bzw. Ausländerfeindlichkeit "bei uns keinen Platz haben". In Bad Hersfeld würden menschenverachtende und demokratiefeindliche Handlungen "mit Entschiedenheit bekämpft, wo, wie und wann immer sie auftreten sollten".
Der Heimathistoriker Otto Abbes war es auch, der penibel genau das Leben der letzten Juden mit Hilfe von Zeugenaussagen dokumentieren konnte. Nur 50 Reichsmark als "Reisegeld" und das Handgepäck war ihnen gestattet, die Wohnungen mußten mit dem gesamten Inventar sowie einer genauen Auflistung von Möbel und Wertsachen zurückgelassen werden. Es gab eine Verfügung, wonach sie nichts von ihrem Vermögen verschenken durften, denn dieses fiel dann automatisch an den Staat. Und so war es nicht verwunderlich, dass der Hersfelder Versteigerer Andreas Münster bereits am 3. Juni 1942 "in der neuen Turnhalle ab 11:00 Uhr" Betten, Schreibtisch, Schrank, Spiegel, Stühle und anderes meistbietend versteigerte. Der Erlös ging an das Deutsche Reich.
"Der Holocaust in seiner Abstraktheit war nicht Irgendwo und Irgendwann, sondern hier in unserer Heimat", erinnerte der osthessische SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Roth bei der gestrigen Gedenkfeier auf dem Hersfelder Bahnhof. Er sei dankbar für diesen Anlaß, weil in der Regel jungen Leuten von alten Männern unterstellt werde, sie wollten nichts mehr vom Holocaust wissen. Er halte diese Unterstellung für falsch und habe eher das Gefühl, dass die alten und teils hochverdienten Männer "der Erinnerungsarbeit überdrüssig" geworden sind - und sie nicht mehr damit konfrontiert werden wollten.
Nach Meinung Roths wird der falsche Eindruck erweckt, als hätte es in Deutschland in den vergangenen 50 Jahren eine offene und kritische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Faschismus gegeben. "Das war nicht der Fall" sagte Roth wörtlich. "Wir haben bis Anfang der 70er Jahre eine Kontinuität der Lügen gehabt". Es sei erst die Generation der Söhne und Töchter gewesen, die ihren Vätern und Müttern und Großeltern die Frage nach deren Verantwortung in den Jahren 1933 bis 1945 gestellt habe.
Für den SPD-Politiker ist die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit keine "Moralkeule" , die man niederschwinge. Die Auseinandersetzung sei vielmehr notwendig, um immer wieder daran zu erinnern, dass die jetzt in Verantwortung stehende Generation etwas tun müsse, damit Menschenrechte überall in der Welt Gültigkeit hätten. +++

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